Was kommt, was geht, was bleibt? Und vor allem warum? Unter diesen Fragestellungen diskutierten Jörg Reuter, Geschäftsführer des FoodCampus Berlin, und der Philosoph und Zukunftsforscher Dr. Hannes Fernow in dieser Woche über die Food Trends, die in den kommenden drei Jahren unser Essverhalten prägen werden. Im Fokus ihres Webtalks standen dabei die Bedürfnisse und Sehnsuchtsfelder der Konsumenten, stabile und sich wandelnde Wertemodelle sowie neue Marktchancen für die pflanzen- und zellbasierten Lebensmittel der Zukunft.  

FernowReuter

Analysierten im Webtalk die aktuellen Food Trends: Dr. Hannes Fernow und Jörg Reuter.

Dr. Hannes Fernow beschäftigt sich mit seinem Think & Do Tank mit langfristigen Veränderungen im Wertesystem der Gesellschaft und deren Bewertung. „Bei unseren Befragungen unterscheiden wir stets zwischen erwarteten Veränderungen und erwünschten Veränderungen“, erklärte der Zukunftsforscher vorab. „Denn nicht alle Veränderungen, die erwartet werden, sind erwünscht. Und umgekehrt. Es gibt also ein Spannungsverhältnis zwischen dem, wonach wir uns sehnen und dem, von dem wir glauben, dass es eintrifft.“ Bei Food Trends liege diese Spannung zwischen technologischen Innovationen und wertebasierten Veränderungen – eine romantisierte Natürlichkeit und die Übernahme von Verantwortung für die Zukunft des Planeten stehen dabei dem technischen Fortschritt und dem Streben nach Optimierung gegenüber. 

Food Trends

„Themen wie Saisonalität, Regionalität und Selbermachen zahlen sehr stark auf den Cluster Natürlichkeit ein und liegen deshalb eher im ‚Sehnsuchtsfeld‘“, führte Fernow aus. „Sie sind sehr stark erwünscht, jedoch glauben die Befragten nicht so sehr daran, dass sie die Gesellschaft maßgeblich beeinflussen werden.“ 

Spannungsverhältnis zwischen Natur und Technik

Den Gegenpol bilden Themen wie Laborfleisch, personalisierte Ernährung und ständige Verfügbarkeit, die den technologischen Fortschritt widerspiegeln. „Aus diesem Spannungsverhältnis kann man sehr viel lernen“, unterstrich der Wissenschaftler.

„Es bleibt dabei, dass die Masse der Verbraucher nach wie vor mit wenig Aufwand genussvoll essen will. Dafür brauchen wir smarte Lösungen, mit denen wir die existierenden Spannungsfelder überbrücken können.“

Dr. Hannes Fernow

Philosoph und Zukunftsforscher, GIM foresight

Im „Hoffnungsfeld“, also dem Bereich der Trend Map, der von der Gesellschaft sowohl erwünscht als auch erwartet wird, positioniert Fernow das „Involvement“ der Verbraucher, sprich: die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. „Allerdings nur dann, wenn das Bemühen um Nachhaltigkeit nicht mit einem Verzicht auf Genuss und Freiheit verbunden ist.“ 

Dr. Hannes Fernow

Dr. Hannes Fernow ist Philosoph und Zukunftsforscher und leitet den Think & Do Tank für strategische Zukunftsforschung GIM foresight. Für GIM foresight forscht er branchenübergreifend an der Schnittstelle zwischen Kultur und Technik und berät Kunden im Bereich Brand Management und Zukunftsstrategie.

Essen und Trinken an der Spitze der Bedürfnispyramide

Interessant: Auch das gerade während der Corona-Pandemie immer beliebtere Online-Shopping wird von den Befragten als „erwartet, aber unerwünscht“ kategorisiert. „Der Hintergrund ist, dass für viele Menschen etwas verloren geht, wenn Arbeit, Freizeit und Einkaufen nur noch zu Hause oder virtuell stattfinden. Es fehlen das sinnliche Erlebnis und das soziale Element“, kommentierte Fernow den Trend zum Onlinekauf, der offenbar viele Konsumenten nicht wirklich glücklich macht. Das gilt besonders auch für die Ernährung: „Essen und Trinken befinden sich längst auf der Spitze der Bedürfnispyramide und hängen heute stark von unseren Einstellungen und Werten ab – politisch und teilweise quasi-religiös.“

Food Trends

Fernow prophezeit, dass die „Schlacht ums Essen“ noch eine ganze Weile anhalten wird. „Aus der Berliner Bubble heraus scheint es oft gar keine Frage, dass die junge Generation sich bald nur noch vegan ernährt. Aber bei der Bundestagswahl haben ebenso viele Erstwähler sich für die FDP entschieden wie für die Grünen. Für diese sind Genuss und Convenience so wichtig wie Nachhaltigkeit für andere. Die Spannungslinien verlaufen weniger zwischen Jung und Alt als zwischen Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen.“ Entscheidend werde es sein, Natürlichkeit und Technologie irgendwie in Einklang zu bringen, um einen verantwortungsvolleren Konsum zu ermöglichen. 

Food Trends

Die aktuellen Food Trends befinden sich laut Dr. Hannes Fernow im Spannungsfeld zwischen Natürlichkeit und Technisierung.  

Probleme werden angepackt

„Möglicherweise sind wir in puncto Lebensmittelproduktion zu lange mit fälschlich romantisierenden Bildern und Vorstellungen konfrontiert worden“, gab Jörg Reuter zu bedenken. Der Geschäftsführer des FoodCampus Berlin, einem Hub für die Zukunft der Ernährung, der aktuell in der Hauptstadt auf Initiative der Artprojekt Gruppe entsteht, erwartet, dass in den kommenden drei Jahren das Engagement der Bevölkerung für eine gesunde und klimafreundliche Ernährung stark zunehmen und die Lösung der bestehenden Probleme der Nahrungsmittelerzeugung für den Planeten in Angriff genommen wird.

Jörg Reuter

Jörg Reuter hat 18 Jahre als Strategieexperte Handelsunternehmen und Markenhersteller beraten, bevor er Geschäftsführer in der Artprojekt Gruppe wurde und dort die Konzeption und Umsetzung des FoodCampus Berlin verantwortet. Foto: Sascha Waltz.

„Die Schnittmengen zwischen den drei Trends Gesundheit und Selbstoptimierung, Rückbesinnung auf Ursprüngliches und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen werden immer größer. Individuelle gesunde Ernährung und klimafreundliche Ernährung gehen immer besser zusammen – gleichzeitig stärkt diese Entwicklung den dritten Trend zu mehr Ursprünglichkeit“, erklärte Reuter. Dabei müssen auch weitere Aspekte der Planetary Health Diet wie die Erhaltung der Biodiversität stärker als bisher mitgedacht werden. 

„Denkt man Plant-based und Regionalität stärker zusammen, kann daraus ein richtiges Lifestyle-Thema werden.“

Jörg Reuter

Geschäftsführer, Artprojekt Gruppe

„Unser Ziel muss sein, eine ‚Good Food System Architecture‘ zu errichten“, sagte Reuter. Dazu gehöre, Regionalität nicht mehr nur als wegkonsumierbaren Wohlfühlfaktor zu sehen, sondern aktiv mitzugestalten. „Dazu brauchen wir Konzepte, die als Gegenpol zur Technologisierung mitten in das romantische Herz der Verbraucher treffen.“

Food Trends

Gesunde und klimafreundliche Ernährung gehören für Jörg Reuter ebenso zu den Food Trends der nächsten Jahre wie Regionalität und Partizipation. 

Grafik: FoodCampus Berlin

Wunsch nach unschuldigem Konsum

Reuter hob drei wichtige Phänomene hervor, die seiner Meinung nach die Ernährung in den kommenden Jahren maßgeblich prägen werden:  die Verschiebung hin zu pflanzlicher Ernährung, neue Proteine und die politisch vorangetriebene Ernährungswende hin zu mehr Bio auf dem Massenmarkt. „Der Antrieb der Akteure im Bereich zellbasiertes Fleisch oder Präzisionsfermentation ist der geringere Ressourcenverbrauch und Klima-Impact und damit der Wunsch nach unschuldigem Konsum“, erklärte Reuter den Aufstieg alternativer Proteinquellen. „Ich erwarte, dass diese neuen Produkte bis 2025 als Novel Food zugelassen werden.“

Plant-based ist da schon weiter: „Dennoch sehe ich hier noch viel Potenzial zur Annäherung an die Themen Gesundheit und Ursprünglichkeit, wobei gerade die Alternativprodukte noch den Beweis antreten müssen, dass sie gesund sind. Denkt man Plant-based und Regionalität stärker zusammen, kann daraus ein richtiges Lifestyle-Thema werden.“ Spannend sei auch die Frage, ob sich zu zellbasiert produzierten Nahrungsmitteln oder pflanzlichen Alternativen zu Fleisch und Milch ähnlich emotionale Herkunftsgeschichten erzählen lassen wie zu „natürlichen“ Produkten.  

Mehr Transparenz

Näher an der Ursprungssehnsucht und zumindest in der Erwartungshaltung auch am Streben nach Gesundheit ist dagegen das Bio-Thema. „Politisch gewollt, werden wir bei Bio massive Zuwächse erleben“, glaubt Reuter. „Interessant wird sein, zu sehen, ob unter diesen Voraussetzungen Bio und Regionalität beziehungsweise Mitgestaltung enger zusammenrücken werden.“ Um mehr Wertschätzung für Lebensmittel insgesamt zu erzeugen, favorisiert Reuter ein Meta-Label, das nicht nur ernährungsphysiologische Einflüsse, sondern auch Aspekte wie die Auswirkungen auf die Biodiversität und den Klima-Fußabdruck einen Lebensmittels abbildet. „Das wird zu einer größeren Transparenz und verstärktem Hinterfragen von Produkten führen“, erwartet Reuter. Auch Fernow rechnet mit einer Verschiebung des Fokus vom Produkt selbst hin zu seinen Hintergründen und Konsequenzen von der Herstellung über die Lieferkette bis in zur Verpackung. „Das Phänomen Lebensmittel wird viel größer werden als das reine Produkt.“ 

Food Trends

Nachhaltigkeit braucht Narrative

Die Gefahr, dass die Menschheit sich irgendwann nur noch von künstlich erzeugten Lebensmitteln ernähren wird, sieht Reuter nicht. „Auch Zellkulturen, die im Bioreaktor wachsen, brauchen Nährstoffe, die immer landwirtschaftlichen Ursprungs sein werden.“ Eine Verlagerung des Schwerpunkts der Lebensmittelproduktion in die Städte hinein, sieht er ebenfalls nicht. „Dazu sind die Grundstückspreise in der Stadt und der Energieverbrauch von Vertical Farming zu groß. Da ist noch viel zu tun, damit es sich durchsetzt.“ 

Fernow betonte, dass Nachhaltigkeit Narrative brauche, die über die reine Frage nach dem Eigennutzen hinausgehen. „Einem kleinen Anteil der Bevölkerung geht es tatsächlich um die Umwelt. Andere Motive wie ‚What’s in for me?‘ sind jedoch viel stärker. Deshalb muss Nachhaltigkeit Spaß machen und attraktiv sein – auch preislich.“ 

FernowReuter

Oszillierendes „Und“ statt „Entweder/Oder“

Beschleuniger der Entwicklungen können laut Reuter Technologien aus Agritech, Foodtech und Smart Health/Nutrition Tracking sein. „Aber auch hier brauchen wir Storytelling und Narrative, die den Nutzen dieser Technologien in die Köpfe bringen.“ Aus „Entweder/Oder“ von Natürlichkeit  und Technologie werde ein oszillierendes „Und“, bei dem situativ mal der eine, mal der andere Aspekt im Vordergrund stehe. „Im stressigen Alltag konsumiere ich zwischendurch vielleicht mal nur einen hochkalorischen Drink, um satt zu werden, während ich abends ein schön inszeniertes Dinner aus regionalen Zutaten genieße.“ Das Spannungsverhältnis zwischen Romantik und Wissenschaft bei der Ernährung wird weiterhin bestehen bleiben, ist auch Fernow überzeugt: „Es bleibt dabei, dass die Masse der Verbraucher nach wie vor mit wenig Aufwand genussvoll essen will. Dafür brauchen wir smarte Lösungen, mit denen wir die existierenden Spannungsfelder überbrücken können.“