Auf einem ca. 14.000 qm gro­ßen Gewer­be­grund­stück im Bezirk Tempelhof-Schöneberg ent­wi­ckelt die Artprojekt Natu­re & Nut­ri­ti­on den FoodCampus Berlin, einen Zukunfts­ort für Ernäh­rungs­the­men auf rund 40.000 qm Geschossfläche. Neben moder­nen Pro­duk­ti­ons­flä­chen ent­ste­hen Labo­re und ande­re Arbeits­platt­for­men für jun­ge und eta­blier­te Unter­neh­men aus der Ernäh­rungs­wirt­schaft, die hier gemeinsam Lösungen für die Herausforderungen der Lebensmittelproduktion finden sollen. „Der Campus wird ein Showroom für die Welt der zell-basierten Produktionen und Bio-Reaktoren, aber auch ein Ort, an dem Essen als kulinarisches Erbe betrachtet und Kochkunst weiterentwickelt wird“, erklärt Geschäftsführer Jörg Reuter. Sein Ziel: „Wir werden der relevanteste Ort für nachhaltige Food Innovationen in Europa und Impulsgeber für ähnliche Orte auf der ganzen Welt.“ 

Herr Reuter, was ist die Idee hinter dem FoodCampus Berlin und was entsteht dort?

Jörg Reuter: Der Gründer der Artprojekt Gruppe, Thomas Hölzel, ist ein Mensch, der Dinge gerne anders macht als andere. Als Immobilien- und Projektentwickler geht er schon lange neue Wege, integriert beispielsweise Kunst und Künstler in seine Gebäude, um seinen Neubauten eine Seele zu geben. Dabei geht es natürlich auch um Profit, aber es steckt vor allem eine große Portion Idealismus dahinter. Seit 2017 entwickelt Artprojekt in Bad Saarow das Marina Resort mit exklusiven Wohnungen und Penthouses, sowie Gastronomie- und  Hotelprojekte, bei denen das Thema Nachhaltigkeit und auch Personal von Anfang an mitgedacht wurde.

Der Anspruch für alle Betriebe der Artprojekt Hospitality ist außerdem, 70 Prozent der Lebensmittel aus der Region zu beziehen. Daraus ergab sich irgendwann die Frage, wie denn eine nachhaltige Zukunft der Lebensmittelproduktion im Einklang mit einem gesunden Planeten aussehen kann. Im ersten FoodCampus in Europa, dessen Baubeginn im Frühjahr 2022 geplant ist, wollen wir die Akteure, die in dieser Zukunft eine Rolle spielen werden, zusammenbringen, um Prozesse durch Cross-Cluster-Projekte zu beschleunigen. Denn häufig haben beispielsweise Startup-Gründer kaum Kontakt zu anderen relevanten Clustern, mit denen sie frühzeitig in den Austausch gehen könnten.

Jörg Reuter

Bevor Jörg Reuter zur Artprojekt Gruppe stieß, war er 18 Jahre lang als selbständiger Strategieberater in der Foodbranche, zum Beispiel für Rewe und Coop Schweiz, unterwegs. Unter anderem baute er für Transgourmet die Marke „Ursprung“ und das „Transgourmet Lab“ auf, das sich Zukunftsthemen für die Außer-Haus-Markt widmet.  Neben der Realisierung des Food Campus gehört es auch zu seinen Aufgaben als Geschäftsführer der Artprojekt Nature & Nutrition, die Traditionsfischerei Köllnitz im Südosten Berlins in ein neues Zeitalter zu führen und dabei das traditionelle Handwerk zukunftsfähig zu machen. Foto: Sascha Walz

Was genau wird auf dem FoodCampus passieren?

Jörg Reuter: Für viele Menschen ist inzwischen klar, dass es in Zukunft keine Innovation im Foodbereich mehr geben kann, ohne dass gleichzeitig der gesellschaftliche Nutzen berücksichtig wird. Das heißt  nicht, Pommes zu entwickeln, die im Delivery knusprig beim Kunden ankommen. Uns geht es um die Lösung globaler Probleme in der Ernährungsindustrie. Einer meiner Leitsätze lautet: „Die Schlacht um eine nachhaltige Zukunft wird auf dem Teller gewonnen.“ Denn der Impact von Food auf die Umwelt und die Planetengesundheit ist nachweislich sehr groß.

Wir müssen dringend die Systeme der Lebensmittelproduktion verändern, aber dabei natürlich die Menschen mitnehmen, denn Essen eben ist nicht nur vernunftgesteuert. Deshalb ist es wichtig, die im Campus von verschiedenen Akteuren entwickelten Planetary Health Solutions der Öffentlichkeit auch zu zeigen. Dafür bauen wir – nach top-ökologischen Standrads übrigens – ein spektakuläres Gebäude mit mehr als 40.000 qm Fläche – als Bühne und Sprungbrett für Lösungskonzepte ebenso wie als Transformationsbeschleuniger und Ökosystem mit idealen Bedingungen für Startups, Unternehmen und Wissenschaft. Berlin mit seiner aufgeschlossenen Food-Szene, Politik, Universitäten und Multiplikatoren ist der perfekte Ort dafür.

Welche Art von Unternehmen soll in den Food Campus einziehen?

Jörg Reuter: Wir vermieten sowohl Werkstatt- und Produktionsflächen als auch Büros. Wir möchten, dass bei uns nicht nur an Schreibtischen gedacht, sondern auch an Maschinen gearbeitet wird. Neben kleinteiligen Produktionen und Laboren wird es auch Urban Farming sowie Co-Working-Spaces und gemeinschaftlich genutzte Küchen geben. Einziehen sollen junge Startups von der Seed- bis zur Growth-Phase, Investoren und Acceleratoren ebenso wie Vertreter großer Unternehmen, Institutionen und Lebensmittelverbände. Auch Nicht-Mieter können Mitglied der Food Campus Community werden.

Food Campus Berlin
Artprojekt Gruppe

Trends und Entwicklungen frühzeitig zu erkennen oder sogar selbst zu begründen, ist das Unternehmenskonzept, dem sich die 1985 gegründete Artprojekt verschrieben hat. Im Zentrum der Arbeit entlang des ganzen Spektrums von Wirtschaftlichkeit, Ökologie, Kultur und Gemeinnützigkeit stehen Mensch und Natur. Mit Blick auf den Wandel der gesellschaftlichen, ökologischen und technischen Herausforderungen der Zukunft folgt die Gruppe unter der Führung von Gründer Thomas Hölzel den selbst gesetzten Leitlinien von Ressourcenschonung, Energieeffizienz und Umweltverträglichkeit.

Im Sinne eines verantwortungsvollen und ganzheitlich orientierten Unternehmertums entstehen so zukunftsfähige, bedarfsgerechte Unternehmen und Unternehmungen in Immobilienwirtschaft, Hotellerie und Gastronomie sowie Naturschutz und gesunde Ernährung.

Woran soll dort gearbeitet, was soll produziert werden?

Jörg Reuter: Die Themen werden sich einerseits im Spannungsfeld zwischen Global und Lokal bewegen, von weltweiten Problemen wie dem dramatischen Biodiversitätsverlust bis hin zur Stärkung der Region. Wir müssen weg vom Region konsumieren hin zum Region mitgestalten. Es reicht ja nicht, zu sagen, wir ernähren uns jetzt dem Planeten zuliebe vegan, wenn dann die Zutaten für die pflanzlichen Alternativprodukte aus allen Ecken der Welt kommen. Um wirklich nachhaltig zu sein, müssen der Hafer für die Berliner Hafermilch und die Erbsen für den Fleischersatz in Brandenburg wachsen. Hier müssen wir mehr Verantwortung übernehmen und Entwicklungen voranbringen.

Die zweite Achse ist die zwischen Tradition und Zukunft. Die Diskussion um pflanzliche beziehungsweise zellbasierte Alternativprodukte und Zubereitungsweisen wie Micro-Fermentation überhitzt gerade etwas und wirkt medial sehr groß, aber tatsächlich spielen diese im Alltag der meisten Verbraucher bisher nur eine winzige Rolle. Uns ist es wichtig, bei den Ideen für die Zukunft auch die Vergangenheit und die emotionale Bindung der Menschen an Lebensmittel mitzudenken.

Food Campus Berlin
Food Campus Berlin

Werden auch die großen Lebensmittelkonzerne Teil des FoodCampus sein?

Jörg Reuter: Wir wünschen uns natürlich, dass auch sie bei uns stattfinden. Die Großen sind leider oft noch immer behäbig. Aber man spürt, dass auch dort mehr und mehr Leute verstehen, dass sie etwas tun müssen und ein Richtungswechsel neue Chancen eröffnet. Genau dadurch wird der Campus zu so einem interessanten Ort: weil dort innovative, agile Startups mit den etablierten, marktmächtigen Produzenten in den direkten Austausch gehen können. Die Corporates sollten allerdings nicht nur kommen, um sich öffentlichkeitswirksam als Teil dieses ’sexy‘ Ortes zu präsentieren, sondern sie müssen konkrete Projektideen haben, die den Austausch bereichern.

In der Animation erwacht der FoodCampus Berlin bereits zum Leben: 

Konzept FoodCampus Berlin: Artprojekt Gruppe Architekur: Tschoban Voss Architekten Visualiserung: Edelviz

Das heißt, es dürften auch Unternehmen mitmachen, die bisher als wenig nachhaltig gelten?

Jörg Reuter: Auch wenn das einige kritisch sehen: Ich habe großen Respekt vor der Aufbauleistung und Fähigkeit der großen Hersteller, den Massenmarkt zu bedienen. Deshalb finde ich es sehr wichtig, sie einzubeziehen. Mein Ziel ist es, die Idee hinter dem FoodCampus Berlin so verständlich zu kommunizieren, dass sich auch die großen Produzenten Gedanken machen, mit welchem nachhaltigen Projekt sie dabei sein könnten – und damit Innovationen anschieben, die aus dem Austausch mit den vielen unterschiedlichen Köpfen auf dem Campus entstehen.

Food Campus Berlin

Was ist mit der Gastronomie – welche Rolle soll sie spielen?

Jörg Reuter: In diesem ganzen Transformationsprozess ist das Know-how von Köchen unverzichtbar, vor allem bei der Produktentwicklung. Köche sind diejenigen, die Gemüse und pflanzliche oder auch zellbasierte Ersatzprodukte so rezeptieren und präsentieren können, dass sie auch Fleischesser überzeugen. Wir beobachten in dieser Hinsicht übrigens einen immer engeren Austausch zwischen Industrie und Gastronomie.

Der gesamte Außer-Haus-Markt befindet sich derzeit in einem spannenden Wandel, nicht zuletzt durch Corona. Es wird Zeit für ein neues Selbstbewusstsein in der Branche, gespeist durch die Vorreiterstellung auf dem Weg in die Zukunft.

Ausgezeichnete Gastronomie

Das Restaurant Freilich am See der Artprojekt Gruppe wurde kürzlich zum Gastgeber des Jahres 2022 im Seenland Oder-Spree gekürt. Das Freilich am See konnte besonders bei Gast-Interaktion & Service, Ambiente & Sauberkeit sowie in der Kategorie Speisen & Getränke überzeugen.

Auch die weiteren zur Artprojekt Hospitality gehörenden Gastronomiebetriebe, die Köllnitzer Fischerstuben in Storkow, die amiceria in Bad Saarow (beide in der Kategorie Restaurant) sowie das Café Le Gâteau rose in Bad Saarow (Kategorie Café), wurden mit dem Siegel Brandenburger Gastlichkeit im Seenland Oder-Spree ausgezeichnet.

Die Betriebe der Artprojekt Hospitality verfolgen – auch im Sinne der Region und des Landes Brandenburg – den Regionalitäts- und Nachhaltigkeitsgedanken. Selbst gestecktes Ziel ist es, alle zu verarbeitenden Produkte mit einem Anteil von 70 % aus einem maximalen Radius von 70 km zu beziehen und die Betriebe klimasensibel zu führen. Um dies zu erreichen, setzt die Artprojekt auf eigene Landwirtschaft und Fischzucht sowie enge Partnerschaften in der Region.

In unserem Community Food & Meeting Space wollen wir deshalb die spektakulärste Kantine Europas bauen und das Thema Mitarbeiterverpflegung völlig neu denken.

Dann müssten auch McDonald’s oder Aramark ein Büro auf dem Campus beziehen?

Jörg Reuter: Idealerweise ja. Wir registrieren übrigens sehr viele Newsletteranmeldungen aus dem Außer-Haus-Markt, gerade von den großen Systemgastronomen und Caterern. Das Interesse ist also vorhanden, denn auch dort gibt es hohen Veränderungsdruck. Aber wie in der Lebensmittelindustrie gilt auch hier: Es geht nur miteinander, nicht, wenn jeder argwöhnisch auf den anderen schaut.

Wir möchten die Gastronomie auf jeden Fall in unser Konzept integrieren. Beim geplanten Food Education Lab sollen Köche ihr Food-Wissen weitergeben. Auch neue Wege und Inhalte für die gastronomische Ausbildung wollen wir hier entwickeln. Wir konzipieren außerdem mit zwei großen Universitäten einen eigenen Studiengang und sind bereits Teil des Master-Studiums Entrepreneurship für regenerative Foodsysteme an der Universität Zürich.

Food Campus Berlin

Wie wird der Alltag auf dem Campus aussehen? Kann jeder Food-Interessierte Mensch dort hinkommen und sich über die neuesten Entwicklungen informieren?

Jörg Reuter: Es wird in erster Linie ein Campus für Profis werden, aber nicht ausschließlich. Wir möchten bewusst Transparenz herstellen, auch Einblicke in die Produktionen ermöglichen. Die Kantine wird ein Begegnungsort sein – auch für die Öffentlichkeit, die wir zu Veranstaltungen einladen – und unsere Themen in die Stadt hineintragen.

Food Campus

Ist es nicht frustrierend, wenn  Politiker in Rom und Glasgow über den Schutz des Planeten diskutieren und zu wenig bis gar keinen Ergebnissen kommen? Kann der FoodCampus aus Berlin Heraus retten, was die Mächtigen der Welt nicht schaffen?

Jörg Reuter: Der Campus hat in diesem Gefüge sehr wohl seine Berechtigung als Transformationsbeschleuniger. Da müssen wir natürlich abliefern und attraktiv sein für die klügsten Köpfe, die Lust haben auf Veränderung.

Wir arbeiten gerade an einem Manifest, in dem wir unsere Ziele klar formulieren – unter anderem steht darin auch, dass wir nicht warten wollen, bis die Politik in die Gänge kommt. Wir erhalten keine Fördermittel, aber es wäre schön, wenn die neue Bundesregierung und der Berliner Senat erkennen würden, welche Chancen darin liegen, die Vordenker der Branche an einem Ort zusammenzubringen. Die politische Ernährungswende hat in den vergangenen Jahren bereits eine gewisse Dynamik bekommen, ich bin verhalten optimistisch, dass es in diese Richtung weitergeht.

Seine Türen öffnen soll der Food Campus erst 2024 – was passiert bis dahin?

Jörg Reuter: Die Probleme, die wir auf dem Campus lösen wollen, sind schon da und warten nicht, bis das Gebäude fertig ist. Deshalb starten wir bereits jetzt mit dem virtuellen FoodCampus. Dazu bauen wir einen Online-Zwilling zum physischen Campus und stoßen ab sofort Projekte an, knüpfen Farm-to-Lab-to-Table-Netzwerke zu allen relevanten Akteuren in Europa und entwickeln Themen mit der wachsenden Campus-Community in Inkubatoren. Über die Ergebnisse werden wir berichten!