Auf vielen deutschen Speisekarten findet sich derzeit das beliebte saisonale Gericht „Matjes nach Hausfrauenart“. Doch auch wenn der Hering zu den Fischen mit der weltweit größten Population gehört, gibt es unterschiedliche Antworten, wie nachhaltig seine Fischerei ist. Beim Matjes Holländischer Art, dem „Hollandse Nieuwe“, dessen Ankunft jedes Jahr im Juni mit großen Festen gefeiert wird, sorgen Fangmethoden, Fanggebiet und Quoten dafür, dass die Bestände derzeit gesichter sind. Für die Lebensmittel Zeitung durfte ich im norddänischen Skagen erleben, wie der Hering ins Fass kommt. 

Mit einem zufriedenen Lächeln steht Daniel Johansson auf der Brücke der Astrid-Marie. Um ihn herum blinken auf gut zwei Dutzend Monitoren Landkarten und Zahlen, dazwischen warten zahlreiche Schalthebel und Computermäuse darauf, den 63 Meter langen Fischtrawler in Bewegung zu setzen. Doch bevor der junge Skipper und seine sechsköpfige Crew wieder in See stechen können, gibt es noch einiges zu tun. Schließlich ist es erst wenige Stunden her, dass die Astrid-Marie am frühen Morgen in den Hafen von Skagen an der Nordspitze Dänemarks eingelaufen ist. Gerade wird die in Eiswasser gekühlte Fracht über ein Saugrohr in einen am Kai bereitstehenden Container transportiert: Rund 300 Tonnen „jungfräuliche“ Heringe aus dem Meer zwischen Norwegen und den Shetland Inseln hat das 2021 in Betrieb genommene, hochmoderne Schiff diesmal an Bord.

Fettgehalt und Größe entscheiden

Vor dem Löschen wird die Ladung kritisch begutachtet. Stimmen Qualität und Größe? Nur wenn der Fettgehalt zwischen 16 und 28 Prozent liegt, die Fische weder zu klein, noch zu groß sind, kann der Fang zum diesjährigen „Hollandse Nieuwe“ werden – dem Jahr für Jahr sehnlichst erwarteten holländischen Matjes, dessen Ankunft nicht nur in den Niederlanden mit vielen Festen gefeiert wird. Johanssons heutiger Fang hat beste Chancen: „Der Fettgehalt ist sehr gut, die Größe auch. Das wird die Kunden freuen.“ 

Matjes

Zufrieden mit dem Fang der Astrid-Marie: Mads Larssons Familie verarbeitet seit vier Generation in Skagen Fisch. 

Einer seiner wichtigsten Kunden ist an diesem Morgen bereits an Bord, um sich persönlich von der Qualität der Lieferung zu überzeugen. Mads Larsson ist Geschäftsführer von Werner Larsson Fiskeeksport, einem der ältesten Fischverarbeitungsbetriebe in Skagen. Larssons Urgroßvater hat die Firma 1932 gegründet, der Urenkel führt sie seit 2013 in vierter Generation. Bis zu 140 Mitarbeiter verarbeiten im Industriegebiet am Hafen der Kleinstadt rd. 15-20 000 Tonnen Fisch pro Jahr, ein Großteil davon Hering und Makrele aus den Gewässern südwestlich von Norwegen.

Ein außergewöhnliches Matjes-Jahr

Die beiden Familienunternehmen verbindet seit Generationen eine enge und vertrauensvolle Partnerschaft. Larsson ist die Freude über Johanssons buchstäblich „fette Beute“ anzusehen: „Ein wirklich guter Fang mit einer perfekten Relation zwischen Größe und Fettgehalt.“ Auch die Färbung und Konsistenz der Filets spielen eine wichtige Rolle, wie der 38-Jährige erklärt, während er vorsichtig die Haut von einem Hering beiseite schiebt: „Wenn die Fische viel Plankton und kleine Krebse fressen, sorgt das für die rosafarbene Marmorierung und Zartheit des Fleisches, die typisch für den Holländischen Matjes sind.

2022 könnte also ein außergewöhnlich gutes Matjes-Jahr sein, wie es sich nicht nur die Holländer erhoffen. Damit der Hering zu einem Matjes bester Qualität werden kann, muss er fangfrisch verarbeitet werden. Schwimmende Fischfabriken, die wochenlang auf See sind, gibt es in Skagen nicht. Doch auch hier hat sich die Fischerei in den vergangenen Jahrzehnten zu einer High-Tech-Branche entwickelt, die gleichzeitig viel dafür tut, dass es Tier und Mensch besser geht. „Man braucht heute weniger Muskeln, sagt Daniel Larsson schmunzelnd.

Die Astrid-Marie ist in der Regel jeweils vier bis fünf Tage per Sonar und Echolot auf der Suche nach den riesigen Heringsschwärmen auf ihrem Weg in die Laichgebiete. Die Tiere werden aus den Netzen direkt in Tanks mit gekühltem Meerwasser gepumpt und sterben dabei schnell – vermutlich am Schock. Moderne Technologie hilft außerdem, den ohnehin geringen Beifang zu minimieren. 

Matjes

Vor der Verarbeitung wird der Fang kritisch begutachtet. 

MSC-Siegel hilft bei der Orientierung

Bei der pelagischen Fischerei in mittlerer Wassertiefe entstehen zudem keine Schäden am Meeresboden, sodass der Hering zu der Handvoll Fischarten gehört, deren Verzehr sogar Greenpeace als „in Maßen“ empfehlenswert einstuft, wenn er aus bestimmten Fanggebieten kommt. Bei der Orientierung hilft unter anderem das MSC-Siegel für nachhaltige Fischerei, das der holländische Matjes bereits seit 2009 zu 100 Prozent trägt – anders als die Heringe aus atlanto-skandischen Fanggebieten im Nordostatlantik und aus der westlichen Ostsee, die das Siegel in den vergangenen Jahren wieder verloren haben.

„Im Grunde gibt es keine Proteinquelle mit einem geringeren CO2-Fußabdruck als unseren Hering. Selbst Pflanzen, die auf Feldern wachsen, haben eine schlechtere Umweltbilanz.“

Mads Larsson

Geschäftsführer, Werner Larsson Fiskeeksport

Die Astrid-Marie hat eine Kapazität von bis zu 1 300 Tonnen. Beim Matjes liegt die Frachtmenge jedoch deutlich darunter, damit die aufgrund ihres hohen Fettgehalts besonders empfindlichen Fische keinen Schaden nehmen, bevor Mads Larsson sie in Empfang nehmen kann. In seiner Fabrik werden jede Saison rund 5 000 Tonnen Matjes gekehlt und für den Transport in die Niederlande vorbereitet – zur Hoch-Zeit läuft der Betrieb inklusive Reinigungsphasen rund um die Uhr. Dabei wird jeder einzelne Fisch nach Größe sortiert und dokumentiert, die Qualität bis ins kleinste Detail überprüft. Nachhaltigkeit ist auch bei der Verarbeitung wichtig: „Bei uns gibt es keinen Lebensmittelabfall oder Verschwendung“, betont Larsson. „Wir verwerten den ganzen Fisch.

Matjes
Matjesverarbeitung

Kooperation von Holländern, Dänen und Schweden

Darüber, dass bei der Verarbeitung alles nach ihren Vorgaben abläuft, wachen die Vertreter der holländischen Fischhändler. Wie die Werner Larsson Fiskeeksport, Teil der Kennemervis Group, gehören inzwischen viele Verarbeiter ihren Partnerunternehmen aus den Niederlanden. Die Zusammenarbeit zwischen Holländern, Dänen und Schweden in Skagen ist seit den 70er Jahren gewachsen. Damals war die Nordsee so leer gefischt, dass der Heringsfang dort vorübergehend verboten war und sich die holländischen Fangflotten anderen Fischarten zuwandten. Als das Verbot 1982 aufgehoben wurde, sprangen die Skandinavier ein, um den Holländern ihren geliebten Matjes zu fangen und zu verarbeiten, während Reifung, Vertrieb und Vermarktung in niederländischer Hand blieben – eine Arbeitsteilung, die bis in die Gegenwart fortbesteht.  

Matjesmädchen
msc
Matjes-Fakten
  • Für den „Hollandse Nieuwe“, „Matjes holländischer Art“ oder „echten“ Matjes werden ganze Heringe „gekehlt“. Das heißt, ihnen werden die Kiemen und Eingeweide mit Ausnahme der Bauchspeicheldrüse entfernt. 
  • Die in der Bauchspeicheldrüse enthaltenen Enzyme bewirken die rund einwöchige natürliche Reifung, die das rohe Heringsfischfleisch in die zarten, nahezu cremigen Matjesheringe verwandelt. Die Fische werden in milde Salzlake eingelegt und reifen eine Woche, wodurch sie ihren charakteristischen Geschmack erhalten – ein jahrhundertealtes Verfahren. 
  • Nach der Filetierung wird Matjes tiefgefroren, weil der Salzgehalt der Lake so niedrig ist, dass er zur Konservierung des Fischfleischs und zur Abtötung von möglicherweise enthaltenen Fadenwürmern nicht ausreichen würde. Dadurch ist Matjes „holländischer Art“ das ganze Jahr über in gleichbleibender Qualität erhältlich. 
Mehr Matjes-Fakten
  • Im Gegensatz dazu bezeichnet Matjes „nordische Art Heringsfilets, die mit Salz, Zucker, Säuerungsmitteln und teilweise mit – meist pflanzlichen – Enzymen, den sogenannten Reifemitteln, veredelt werden. Sie verfügen über eine tendenziell festere Konsistenz und sind in der Regel günstiger im Preis.
  • Von den insgesamt jährlich in der Nordsee gefangenen rund 450 000 Tonnen Hering werden nur 25 000 Tonnen – etwa 180 Mio. Fische – zum „Hollandse Nieuwe“ verarbeitet. Sie stammen aus der Nordsee vor Deutschland über Dänemark bis nach Schottland und Norwegen. Etwas weniger als die Hälfte bleibt in den Niederlanden, die andere Hälfte wird nach Deutschland und Belgien exportiert. 
  • Der Name Matjes leitet sich vom niederländischen „Maagdenharing“ ab, was so viel heißt wie „Jungfrauenhering“. Die noch nicht geschlechtsreifen Tiere bauen im Frühjahr in Vorbereitung auf die Fortpflanzung reichlich Fettreserven auf, was sie nicht nur besonders zart, sondern dank des hohen Anteils ungesättigter sowie einfacher Omega-3-Fettsäuren auch besonders gesund macht.
Noch mehr Matjes-Fakten
  • Um ein Matjes zu werden, darf ein Hering noch keine Geschlechtsprodukte (Milch und Rogen) gebildet haben. Dabei geht es nicht um Jungfische: der Hering wird jedes Jahr wieder „jungfräulich“.
  • Die Matjessaison startet traditionell im niederländischen Scheveningen mit der Versteigerung des „1. Fasses“ für einen guten Zweck, die in diesem Jahr am 14. Juni stattfand. Seit dem 15. Juni ist der Hollandse Nieuwe 2022 auch in Deutschland erhältlich. Hierzulande gibt es rund 20 Matjes-Feste, u.a. in Hamburg, Bremen, Duisburg, Emden und Glückstadt. 
  • Frischer original holländischer Matjes sollte noch am Tag des Kaufs gegessen werden, spätestens jedoch am nächsten Tag, wobei er bis zum Verzehr unbedingt im Kühlschrank aufbewahrt werden muss.
  • „Holländischer Matjes“ ist von der EU seit 2016 offiziell anerkannt als „Garantiert traditionelle Spezialität“ (GTS)

Heute sollen strenge Quoten, die in Dänemark unter den meist mittelständischen und in Familienhand befindlichen Fischereiunternehmen aufgeteilt werden, die Bestände schützen. Maßgeblich bestimmt werden sie durch den Internationalen Rat für Meeresforschung (ICES). Dass die Quoten wirken, zeigt die in den vergangenen zehn Jahren in der Nordsee kontinuierlich gewachsene Menge an Heringen – der WWF geht dort von etwa 1 Mio. Tonnen fortpflanzungsfähiger Tiere aus.

Also ist in puncto Nachhaltigkeit beim Heringsfang in der Nordsee alles bestens? Leider nein. Bei der Festlegung der Fangquoten für 2022 wurde die Heringsfischerei im Skagerrak zwischen Skagen und der norwegischen Südostküste wie auch im benachbarten Kattegat drastisch eingeschränkt. Grund ist die dramatische Dezimierung des Herings in der westlichen Ostsee. Die Schwärme schwimmen von dort nämlich zum Fressen auch in die Nordsee, wo Nordseefischer sie versehentlich fangen. Die Maßnahme soll in den kommenden Jahren eine Erholung des Ostsee-Bestands ermöglichen und die Existenzen der dortigen Fischer retten. 

Besseres Bestandsmanagement

Den weiter nordwestlich gefangenen Holländischen Matjes betrifft diese Einschränkung derzeit nicht. Das Marine Stewardship Council (MSC) mahnt dennoch zu einem besseren Bestandsmanagement, vor allem beim Hering aus dem Nordostatlantik, der einen Großteil der in Deutschland erhältlichen Matjesprodukte ausmacht. 

Matjes

Bleibt die Aufgabe, die junge Verbrauchergeneration, die zunehmend lieber zu coolem Sushi oder Ceviche greift, für das  Traditionsprodukt Matjes zu begeistern. „Als regionales, heimatverbundenes und dabei gesundes Gericht passt der holländische Matjes zu vielen Trends“, erklärt Remke Nehrstede von der Vermarktungsagentur Holländisches Fischbüro, die das Kultgericht unter anderem mit einem umfangreichen Rezeptservice auf ihren Social Media-Kanälen in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. „Beispielsweise funktioniert er wunderbar als Topping auf einer Poké Bowl!“ Und ist dabei tatsächlich nachhaltiger als viele andere andere, weit gereiste Fischsorten: „Im Grunde gibt es keine Proteinquelle mit einem geringeren CO2-Fußabdruck als unseren Hering, fasst Mads Larsson zusammen. „Selbst Pflanzen, die auf Feldern wachsen, haben eine schlechtere Umweltbilanz.

Astrid
Daniel Johannsson

Zwischenstop in Skagen: Daniel Johannsson macht wenige Stunden im Hafen Station, bevor es für die Astrid-Marie wieder hinaus auf die Nordsee geht. 

Er sieht sein Unternehmen gerade in Zeiten unterbrochener Lieferketten im globalen Wettbewerb im Vorteil. „Wir können nicht mit den Preisen asiatischer Fischproduzenten konkurrieren. Deshalb müssen wir die Verbraucher mit Qualität und Zuverlässigkeit überzeugen!“ Daniel Johansson und seine Astrid-Marie sind da schon wieder unterwegs Richtung Shetland Inseln. Schließlich ist die Matjes-Saison kurz und die Ware begehrt.   

Fotos: Barbara Schindler, Holländisches Fischbüro, MSC